Wider die Kunst by Tomas Espedal
Autor:Tomas Espedal [Espedal, Tomas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Matthes Seitz Berlin Verlag
veröffentlicht: 2015-08-17T16:00:00+00:00
Und heute: die erste Kälte. Kalter Wind weht mitten durchs Haus. Die plötzliche Kälte weckt uns früh, der starke Wind, der mit Regen und Hagel gegen die Fensterscheiben peitscht; sie schläft bei offenem Fenster, und am Fußende ihres Bettes liegt eine dünne weiße Schicht Hagel auf der Bettdecke.
Im Haus ist es kälter als draußen; eine neue, alte Kälte, als hätte der Herbst im Hause übersommert, hätte Frühling und Sommer überlebt, und jetzt entfaltete er sich mit voller Kraft im Haus, draußen ist noch Spätsommer.
Die Blätter und Beeren sind von den Ebereschenzweigen in der großen Vase auf dem Schreibtisch gefallen; rot und rissig liegen sie auf der Tischplatte, als wäre der September im Haus ein Monat und draußen ein anderer: Im Garten hängen Ebereschenbeeren und Äpfel rot und reif im scharfen Sonnenlicht.
Es ist Herbst im Haus.
Die Blütenblätter an den für die Vase geschnittenen Rosen rollen sich in die Blüte hinein, sodass ihre braunen Kanten ein neues Muster in der Mitte bilden, eine alte Blüte: eine neue Blüte, die welke Blüte.
Das Draußen ahmt das Drinnen nach.
Der Herbst beginnt im Schlafzimmer, zieht dann langsam im Wohnzimmer ein und auch im Arbeitszimmer, wo er notiert wird; er setzt sich wie ein Geruch in den Kleidern fest, wie eine schwere, reife Frucht, irgendwo zwischen Lunge und Herz, bevor er sich weiterbewegt, aus dem Haus hinaus, in den Garten hinaus, hinaus in die Apfelbäume und Blumen. Drei Äpfel liegen auf dem Schreibtisch. Erst in einigen Wochen werden die Äpfel am Baum dieselbe unnatürliche Einsamkeitshaut bekommen und die Farben der halbverfaulten Äpfel auf dem Tisch.
Und heute: ein Brief im Briefkasten. Zwischen die Zeitungen gesteckt. Der Postbote hat ihn gegen den Regen schützen wollen und darum die Zeitungen um den Umschlag gefaltet; man kann sich unschwer vorstellen, dass die Zeitungen und der Brief durchnässt worden wären, wenn ich die Post nicht geholt hätte, wenn es weiter regnete, ein kräftiger Regenschauer, anhaltendes Regenwetter, die Zeitungen würden durchweicht werden, und der Brief desgleichen; er wäre unlesbar.
Das hat es schon gegeben; es regnet, ich hole die Post nicht.
Die Vögel fliegen in Form einer Pfeilspitze, es sieht aus wie ein großer Flügel oder der Rand eines Lilienblatts, ein flacher Bogen, ein weicher Bogen am Himmel, der die Vögel in gerader Linie über den Seerosenteich schießt.
Das Spiegelbild des Vogelzugs im Wasser, als ob die Vögel durch die offenen Seerosenblüten flögen.
Die Vögel fliegen in einer geraden Linie südwärts über den Teich und das Briefkastengestell, das in die Hagebuttenbüsche genagelt ist. Die Blüten wachsen zwischen den Briefkästen hindurch, eine orangerote Wildnis von Hagebutten und Rosen, die Blütenblätter fallen ab und bilden einen dünnen Streifen vor den Briefkästen. In der Hagebuttenhecke und den Beerensträuchern tummeln sich Vögel; Elstern und Amseln, Spatzen und Meisen, sie futtern schwarze und rote Johannisbeeren, Stachelbeeren und Hagebutten. Manchmal liegen ein oder mehrere Rosenblätter im Briefkasten.
Ein Brief. Zwischen den Zeitungen. Ein weißer Umschlag, die Adresse handschriftlich. Ein handgeschriebener Brief. Erst lese ich die Zeitungen. Dann lese ich den Brief. Es ist ein persönlicher Brief, beinahe eine Drohung, er schreibt: Es ist unvermeidlich, dass ihr auszieht.
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